Fordert nicht das Alte Testament „Auge um Auge“, während Jesus von Vergebung und Liebe spricht?

Manche Christen zitieren gerne die Aussage Jesu in der Bergpredigt „Ihr habt gehört, dass gesagt ist: ‚Auge um Auge, Zahn um Zahn.‘ Ich aber sage euch ...“(Mt 5,38.39). Damit wollen sie zeigen, dass Jesus das Alte Testament verändert und etwas Neues gebracht hat.

Die von Jesus zitierte Regel stammt aus den Gesetzen Moses, nach denen Recht gesprochen werden sollte (2 Mo 21,24). Jeder Staat braucht Gesetze, die das Zusammenleben der Menschen und Rechtsverletzungen regeln. Zur Zeit Jesu riss man jedoch einige Gesetze aus ihrem Zusammenhang und verdrehte ihre Bedeutung. Das wollte Jesus in der Bergpredigt wieder richtigstellen.

Betrachten wir einmal die Regel „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ in ihrem Zusammenhang (2 Mo 21,18–27). Es geht dort um Schlägereien zwischen Männern. Wurde einer verletzt, sollte der andere dafür nicht bestraft werden, weil beide an der Schlägerei beteiligt gewesen waren. Arztkosten und Arbeitsausfall mussten jedoch erstattet werden. Wurde bei der Schlägerei jedoch ein Unbeteiligter geschädigt (hier eine schwangere Frau), musste der Verursacher ein vom Richter festgelegtes Schmerzensgeld zahlen.

Die folgenden Verse werden von christlichen und jüdischen Kommentatoren so verstanden, dass beispielsweise für jedes verletzte Auge oder jeden ausgeschlagenen Zahn eine vom Richter festgelegte Geldstrafe gezahlt werden musste („Auge um Auge ...“). Sklaven dagegen sollten in einem solchen Fall freigelassen werden (Vers 26 ff.).

Interessant ist, dass die konservativen Pharisäer zur Zeit Jesu diesen Text in Rechtsstreitigkeiten genau so verstanden, während die liberalen Sadduzäer vom Richter eine Verstümmelung des Schadensverursachers forderten. Trotzdem meinten beide, dass dieser Text auch ihre persönliche Rache rechtfertigen würde. Das aber verneint Jesus eindeutig. Wir sollen sogar für erlittenes Unrecht nicht gleich vor Gericht gehen, sondern lieber einmal zurückstecken. Wie kann man auch andere Menschen für Jesus gewinnen, wenn man sich ständig mit ihnen herumstreitet?!

In den nächsten Versen der Bergpredigt scheint Jesus jedoch dem Alten Testament direkt zu widersprechen: „Ihr habt gehört, dass gesagt ist: ‚Du sollst deinen Nächsten lieben und deinen Feind hassen.‘ Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde ...“ (Mt 5,43.44). Tatsächlich ist die Nächstenliebe ein Gebot aus 3 Mo 19,18. Doch was ist mit dem zweiten Teil der Aussage? Sollten die Israeliten nicht ihre Feinde hassen, während Jesus zur Feindesliebe aufruft?

Doch auch hier widerspricht Jesus nicht den Gesetzen Moses. Feindesliebe kannten auch schon die Israeliten (vgl. 2 Mo 23,4; Spr 25,21). Der Zusatz „und deinen Feind hassen“, steht außerdem nicht im Alten Testament, sondern wurde später hinzugefügt. Jesus möchte deshalb seinen Hörern wieder bewusst machen, was unter einem Berg von falschen theologischen Ansichten und religiösen Traditionen verschüttet worden war. Er wollte eben Gesetz und Propheten nicht aufheben, sondern ihre wahre Bedeutung zeigen (Mt 5,17 wörtlich). Auch sie fordern nämlich nicht nur Gerechtigkeit, sondern auch Liebe.